„Lest we forget“, wiederholen wir ehrwürdig und erheben unsere nach alter Tradition mit Rum und Milch gefüllten Gläser. Auf nüchternen Magen kein leichtes Spiel, insbesondere nicht um 6 Uhr morgens. Die Gläser klirren. Neben uns stehen und sitzen weitere rund einhundert Australier, die dem Brauch ebenso nachgehen. Einige von ihnen deutlich häufiger als andere. Terry zumindest ist, ganz patriotisch, kaum von der Bar wegzudenken, seine acht Gläser kalte Milch sind schneller weg als warmer Kakao.

Es ist Anzac Day in Australien und – als sei das nicht genug – zudem der 100. Der jährlich am 25. April stattfindende nationale Gedenktag erinnert an die im ersten Weltkrieg im türkischen Gallipoli gefallenen Soldaten aus Australien, Neuseeland und Tonga.

Ist der Anlass auch noch so bedeutsam und ernst, sind die Feierlichkeiten doch herrlich entspannt und ungezwungen, aber auch überraschend emotional, unkonventionell, einprägsam und vor allem uraustralisch. Nach und nach füllt sich der anliegende Parkplatz mit breitreifigen Pick-ups und in dem weit und breit einzigen Pub der Gegend versammelt sich die gesamte Nachbarschaft. Manche von ihnen tragen stolz die Abzeichen und Medaillen der Väter und Großväter, andere erscheinen legerer in Flipflops und Shorts. Stören tut sich keiner daran, so oder so. Hauptsache ist, dass man da ist. Es folgen einige kurze Reden, das Vater Unser und die gemeinsam gesprochene The Ode, die vierte Strophe des Gedichtes For The Fallen von Laurence Binyon. Während des zeremoniellen Trompetenspiels werden an den nahen Fahnenmasten australische Flaggen herabgelassen. Auch die anschließende Schweigeminute ist ebenso berührend wie die andächtig zum Denkmal getragenen Blumenkränze. Ähnliche Zeremonien finden zur gleichen Zeit überall im Land statt, auf jedem noch so kleinen, noch so unbewohnten Flecken Land, von den großen Metropolen an der Ostküste bis hin zu den verlassenen Zehn-Seelen-Dörfern im australischen Outback.

Frühstück am 100. Anzac-Gedenktag in Australien

Anschließend lädt der Wirt zu Getränken und deftigem Buffet ein. Letzteres wird – sicherlich auch dank Rum und Milch – bereits sehnlichst erwartet. Mit Buttertoast, gebackenen Bohnen, Grilltomate, gebratenem Speck, Würstchen und einer Auswahl an Eiern könnte es wohl kaum australischer sein. Oder, wie man es nimmt, auch nicht britischer. Zum Sonnenaufgang fahren wir zurück und fallen völlig erschöpft ins Bett. Terry werden wir erst am frühen Nachmittag wiedersehen. Milch macht wohl müde.

 

The Ode

„They shall grow not old, as we that are left grow old;
Age shall not weary them, nor the years condemn.
At the going down of the sun and in the morning
We will remember them.“